Erasmus-Grasser-Gymnasium, München                                                                              Seminarleiter Martin Gensbaur
Fachseminar für Kunsterziehung  

Beiträge zur historischen Fachdidaktik – die Jahre der Weimarer Republik

Zusammenfassung einer Dissertation von Wolfgang A. Reiss, Die Kunsterziehung in der Weimarer Republik, Weinheim, Basel, 1981

Ablehnung des alten Zeichenunterrichts nach 1918- „Zerstörung der Bildung“

Der Zusammenbruch der alten Ordnung führte nach 1918 zunächst einmal zu einer Phase des sozialen und revolutionären Aufbruchs. Man rebellierte gegen alles, was zuvor wilhelminisch war, also auch gegen den alten Kunstunterricht. Viele expressionistischen Maler setzten sich dafür ein, dass pädagogisch begabte Künstler an allen Schulen ohne besondere Prüfungen zugelassen werden. Sie seien die freiesten Menschen und dazu berufen in der Schule zu unterrichten. Revolutionäre wie Max Taut hielten eine Reform der bisher bestehenden Lehranstalten a priori für unmöglich. Man sprach ganz offen sogar von einer „Zerstörung“ der Bildung .

Horst Tappert, seit 1919 Professor in Berlin forderte an erster Stelle die Abschaffung und Reorganisation des bisherigen Zeichenunterrichts. „Vollständiges Gewähren lassen der kindlichen Phantasie im Kinderheim und der Schule bis etwa zum 10. Lebensjahre. Keine Trennung der Geschlechter. Förderung des kindlichen Ausdruckszeichnens durch Lehrer, deren Aufgabe es nicht sein soll, die Zeichnungen auf Richtigkeit, technische Sauberkeit und dergleichen Dinge zu korrigieren. Aufgabe des Lehrers muss es sein, die Phantasie des Kindes anzuregen... Die technische Fähigkeit, sauber zu zeichnen hat bisher viel zu sehr im Vordergrund allen Zeichenunterrichts gestanden und bei Schülern und Eltern die irrige Angst erzeugt, diese Fähigkeit genüge, einen künstlerischen Beruf zu ergreifen.“ Man muss sich vergegenwärtigen, dass die Praxis des Kunstunterrichts damals immer noch nach Vorlagen, die auf Pestalozzi zurückgingen, arbeitete. Stigmatisches Zeichnen oder Netzzeichnen, Takt- und Diktatzeichnen waren Tendenzen schulischer Übung. Die Reformmethoden des Naturstudiums und Gedächtniszeichnens, sowie die Berücksichtigung der Erforschung der Entwicklung der Kinderzeichnung wurden in der Unterrichtspraxis wenig berücksichtigt.

Neuidealismus - lasst Kinder Künstler sein, „wahrer Expressionist“

Der Expressionismus wurde in den Jahren um 1920 von dem jungen Emil Betzler in die Diskussion eingeführt. Der Herausgeber des Sturm Herwarth Walden stellt in einem Artikel dem alten Zeichenunterricht den extremen Subjektivismus des genuin Expressionistischen der Kinderzeichnung gegenüber. Kunst kann seiner Ansicht nach nicht gelehrt werden, sondern ist Gestaltung des schöpferischen Triebes und in seiner Urform nur als Spiel wahrnehmbar. Die Schule jedoch lege es darauf an, den Spieltrieb zu vernichten. Ein Kind, das nicht spielen darf, kann auch nicht gestalten. Stattdessen müsse es gereimte Blödheiten auswendig lernen. Der Zeichenunterricht der Gegenwart sei daher für ihn der Beginn des systematischen Verderbens der Augen. Für ihn kann es keine Kunsterziehung an den Schulen geben, sondern allenfalls eine künstlerische Erziehung. Um diese zu erreichen müssen sich zunächst einmal die Lehrenden selbst zum künstlerischen Sehen und Hören erziehen. Sie müssen eben nicht lehren, sondern helfen. Nicht die moderne Kunst, der Expressionismus gehöre in die Schule, noch die sogenannte gute alte Kunst, sondern das künstlerische Empfinden.

Die Kritik der Expressionisten und ihre Angriffe auf den traditionellen Zeichenunterricht fanden ihre wirksamste theoretische Vertretung durch den „Bund entschiedener Schulreformer“ (BESCH), der 1919 gegründet wurde. Kunstunterricht solle die Sinnesorgane der Kinder wecken und ausbilden. Allen Gestaltungswünschen der Kinder solle Gelegenheit gegeben werden, sich auszudrücken. D.h. alle technischen, handwerklichen und künstlerischen Hilfen sollen angeboten werden. Man müsse zur Kultur erziehen, indem man Kultur lebe. Inhaltlich, methodisch und didaktisch blieb damit dem Lehrer die Aufgabe, ausgehend vom Gefühl und Erlebnis, das „schöpferische Vermögen“ im Kinde und Jugendlichen zu entbinden. Letztlich war dies eine lebensphilosophisch geprägte Vorstellung von Kunsterziehung, die allein in der Auseinandersetzung mit dem Material bildend wirken sollte. Die idealistische Auffassung kam in ihrer Diktion dem antiintellektualistischen Kalkül der nationalen Rechten entgegen.

So heißt es z.B. in einer Schrift der Lehrerin Hedwig Höken: „ Schulreform, Schlagwort unserer Zeit. Schafft vor allem die Zwangsherrschaft des Geistes, des Wortes ab, lasst Kind wieder arbeiten, schaffen, sein dürfen. Künstler sein – wahrer Expressionist.“

Rasch wurde die vom BESCH ursprünglich gesellschaftskritisch intendierte Priorität des Ethischen gegenüber dem Ökonomischen scheinbar mühelos in den lebensphilosophischen Kontext bürgerlicher Existenzangst integriert.

 

Idealistische Kunstbetrachtung: „Kunstandacht“ – „Ehrfurcht erzeugen“

Nach 1920 häufen sich Aufsätze, die den Expressionismus als romantischen Gefühlsausfluss der in der Tiefe der Empfindung wurzle, der übersinnlich und göttlich sein wolle, charakterisieren. Man beschwört, angespornt durch den Grünewaldforscher Oskar Hagen und seinem Buch „Deutsches Sehen“ den nationalen Geist der Gotik, auf dem der Expressionismus beruhe. Für den Kunstunterricht hatte dies u.a. die Konsequenz, dass die reine Kontemplation zum Kernstück der neuen Kunstpflege in der Schule wurde. Kunsttheorie hingegen wurde abgelehnt, da es dem ganzheitlichen seelischen Empfinden widerspräche.

Jede Kunstbetrachtungsstunde solle den Charakter einer „Kunstandacht“ haben, so schreibt Gustav Kolb 1921 stellvertretend für viele Kunsterzieher dieser Jahre. Seit dem Kunsterziehertag in Dresden 1901 galt die Abwendung des Fachs von der Kunstgeschichte und die Hinwendung zu einer Kunstbetrachtung im Sinne Lichtwarks als vollzogen. Diese Tendenzen verstärkten sich im lebensphilosophisch gefärbten Klima der 20er Jahre. Bis zur Denkschrift des Jahres 1924 galt aller kunst- und werkgeschichtlicher Unterricht als Domäne der Philologen. Mit der Aufwertung des Zeichenunterrichts zu einem vollwertigen Fach 1924 wurden die Aufgaben verteilt: die Deutschlehrer waren für die Vermittlung geschichtlicher und inhaltlicher Bedingtheiten des Kunstwerks zuständig. Den Zeichenlehrern war es überlassen die formale Gestaltung zu vertiefen und die Schüler in den Fragen der persönlichen Ausdrucksweise des Künstlers zu unterrichten. Stellvertretend nennt Reiss ein „Handbuch des Arbeitsunterrichts für höhere Schulen“:

Es gelte vor allem die seelische Anteilnahme der Schüler am Kunstwerk zu wecken. Vor allem soll die deutsche Kunstbetrachtung dem nationalen Empfinden dienen, „Liebe zur Heimat und Scholle einflößen“. Bis weit in die Mittelstufe hinein sei das Interesse für das Märchenhafte, Anektotische, Geheimnisvolle und Wunderbare zu berücksichtigen (Richter, Schwind, Rethel, Hans Thoma, Böcklin, Spitzweg...). In der Mittelstufe könne man auch zu Bildern übergehen, bei denen das Seelische durch die Form erschlossen werden müsse, also Landschafts- und Stimmungsbilder. Hier sei der heimatliche und völkische Gesichtspunkt  besonders zu betonen ( Künstlerbiographien, Briefe, Tagebücher Richters, Dürers, Feuerbachs Vermächtnis...). Schließlich sollen sich Schüler der Oberstufe selbstständig in Referaten mit künstlerischen Problemen auseinandersetzen. Die theoretischen Grundlagen hierfür böten Schriften wie Oskar Hagen, „Deutsches Sehen“ oder Wölfflins „Formprobleme der Gotik“. Der Zugang zum Kunstwerk könne nur seelisch erlebt werden, niemals aber intellektuell. So wird die sprachliche und rhetorische Überlegenheit der Philologen von den Zeichenlehrern als ein Mangel betrachtet. Künstler könnten eben mit Stift und Pinsel besser reden als mit dem Munde. Wenige, schmucklose Worte, aus denen das starke Gefühl innerer Ergriffenheit spricht, sagten mehr als viele Worte und noch besser sei das gemeinsame Schweigen vor einem Kunstwerke!... wer`s nicht fühlt, dem kann es niemals eingeredet werden.

 Derartige Positionen stellten die Zeichenlehrer außerhalb jeder rationalen Auseinandersetzung. Jede Kritik war somit von Haus aus „kunstfeindlich“. Statt Aufklärung sollte Ehrfurcht erzeugt werden. Kunstunterricht, so heißt es in der Diktion der Zeit, solle in erster Linie „Stimmung erzeugen“. Es wäre eine „Beleidigung an den Künstler, wollten wir den Inhalt des Kunstwerkes auf rein schul- und verstandesmäßigem Wege dem Kind vermitteln“.

Hartlaub: Der Genius im Kinde

Die idealistischen Strömungen dieser Jahre manifestieren sich auch in  der vielbeachteten Ausstellung „Der Genius im Kinde“ des Jahres 1921, die der Kustos der Mannheimer Städtischen Kunsthalle Gustav Friedrich Hartlaub realisierte. Sie war die erste umfassende Darbietung von Zeichnungen „begabter“ Kinder nach dem Krieg. Der Ausstellung in Mannheim folgten Ausstellungen in ganz Deutschland. Das ein Jahr später erschienene gleichnamige Buch wurde zu einer in Fachkreisen vielbeachteten Schrift. In romantischer Diktion nennt er das Sein des Kindes einen „Genius“, was nicht mit „Genie“ gleichzusetzen ist. Der Genius ist ein Schatz des Kindes, an eine vorbewusste, naturgebundene Bewusstseinslage gebunden, an welcher bereits der Jugendliche nicht mehr teilhat. Das Kind ist ein „naiver Impressionist“ und „naiver Monist“, d.h. es denkt vollständig anthropomorph und beurteilt alle fremden Erscheinungen nach dem Maß der eigenen leiblichen Person. Das durchschnittliche Kind zeichnet nicht, was es sieht, sondern, was ihm von dem Gewussten wichtig, gefühlsbetont ist. Kindheit und Kinderkunst sind am ehesten mit der Kunst des Volksliedes, der Volksepik und er Volkskunst vergleichbar, wie auch mit Naturvölkern, archaischen Frühkulturen und Landbewohnern. Ausgangspunkt des naiven Schaffens sind die kindlichen Träume und das Spiel. Damit gehört die Kinderzeichnung nicht zum Bereich der Kunst, sondern zum Spiel. Hartlaub unterscheidet in der Kinderzeichnung „Zeichen“, die bei allen durchschnittlich veranlagten Kindern vorzufinden sind, wenn sie nicht darstellen, was sie sehen, sondern, was sie von den Zeichen und Dingen wissen. „Gesichte“ seien alle Äußerungen, die von visuellen Eindrucksbildern ausgehen, Erinnerungsbilder. Kinder, die mit „Gesichten“ operieren, brächten laut Hartlaub die „Mehrleistung“, die den Genius in seiner spezifischen Begabung auszeichne. Vorwiegend derartige Bilder waren in Mannheim ausgestellt. Hartlaubs Spielgedanke war im Jahre 1922 ein scheinbar überparteiliches und weltanschauungsfreies, rückhaltloses Plädoyer für das Kind. Dies traf auf bürgerliche Mittelschichten, die sich gerade mitten in einer geistigen und materiellen Krise befanden. Hartlaub nährte die Hoffnung, dass man in diesem noch unberührten pädagogischen Raum sein schon verloren geglaubtes menschliches Ideal der Individualität und eine ganzheitliche, nicht entfremdete Erfahrung menschlicher Praxis nun doch über die Vermittlung des Kindes erfahren und auch dokumentieren könne. Die Kunstwissenschaft nahm sich mit Hartlaub der Kunstpädagogik an und postulierte ein neues Bewusstsein vom Kind und seiner „Kunst“.

Für die schulische Praxis waren diese „Gleichnisse“ von großer Bedeutung. Man glaubte, indem man einen psychogenetischen Parallelismus voraussetzte, die Entwicklungsstufen der Menschheit würden sich in der Kinderzeichnung wiederholen. Die Kinderzeichnung diente in der Folge den Forschern, sogenannte primitive Stadien der Menschheitsgeschichte zu begreifen, aber erst der Expressionismus schuf ein Bewusstsein, dass auch das spielende Gestalten des Kindes seinen absoluten Wert erhielt. Der Parallelismus führe eben auch dazu, dass gerade beim Kind die Pflege der Volks- und Bauernkunst auf fruchtbaren Boden falle. Aus dem psychologischen Parallelismus in Verbindung mit dem Expressionismus begründet Hartlaub eine volkskundlich ausgerichtete schulische Kunsterziehung. Aus dem Expressionismus folgerte er eine neue Bedeutung und Sichtweise der Kinderzeichnung in der Rezeptionsweise der Erwachsenen. Kindheit habe für Hartlaub einen Eigenwert, den es möglichst lange zu erhalten gelte. Das Kind sei in sich selbst zu bekräftigen. Der „scheußliche Fortschritts- und Entwicklungswahn“ sei mindestens eine Weile vom Kind fernzuhalten. Die Entwicklung des heranwachsenden Menschen sei kein Fortschritt, sondern ein Verlust. Alle Beeinflussungen von Seiten der Erwachsenen können für das Kind verhängnisvoll sein, denn das Erlebnis des kindlichen Genius sei umso stärker, je weniger dieser behindert und beeinflusst werde. Dies führte in der kunstpädagogischen Praxis zur Haltung des „Wachsenlassens“.

Das Kind wird mit Hartlaubs Konzept der Kunstpädagogik in seiner Abwehr gegen das Technische und Materielle bestärkt, seine Wirklichkeitserfahrungen ausgeblendet. Was das im Hinblick auf die gesellschaftliche und politische Erziehung bedeutete, wird bewusst, wenn Hartlaub meint, dass es widersinnig sei, einem Kind bürgerlich-demokratische Ideen beibringen zu wollen. Gunter Otto bezeichnet diese Auffassung als „Abschirmpädagogik“.

 

Georg Kolb – Bildhaftes Gestalten

Als Schriftleiter von Kunst und Jugend fasste Kolb die Theorieströmungen der zwanziger Jahre zusammen. Größten Einfluss auf Kolb übt zunächst Hartlaub aus. Er war es, der Volks- und Zierkunst im Kunstunterricht neu begründete, wie das Prinzip des „Wachsenlassens“ des kindlichen Genius. Die BESCH- Mitglieder Alexander Müller und Christoph Natter hatten vor Kolb die neuidealistischen Kategorien in den Zeichenunterricht eingeführt. Müller schrieb 1922, dass nur das Gefühl und das Leben Gestaltung hervorbringen könnten. Die Art des gestaltenden Kunstunterrichts stünde der wissenschaftlichen Arbeitsweise geradezu entgegen. Wissenschaft sei Analyse, Kunst Synthese. Jede intellektuelle Einstellung müsse das zu pflegende Kunstgefühl schwächen. Kolb bezeichnet es als „größte Erziehungsweisheit“, den Seelenkern, der noch das Wertvollste sei, was der Mensch besitzt, unversehrt gerade über die Kindheitsstufe hinüberzuretten. Das Schaffen des Kindes fließt für Kolb aus dem Wurzelbereich der Seele, aus den Tiefen seiner Gefühlswelt. Demnach können Kunstgeschichte, Kunstbetrachtung und Führungen in Museen nicht zur Kunst führen, da die Seele nicht belehrbar sei. War die impressive Erscheinungstreue das Bemerkenswerte an den vorwiegend mit Gesichten operierenden Kindern bei Hartlaub, so ist es bei Kolb die seelische, eigentriebige, unabhängige Gestaltungsgesetzlichkeit, die sich aus der Fülle der Phantasie speist. Kunst ist wie Religion, eine Angelegenheit der Seele. Ebenso wenig wie man einen anderen Menschen zur Religion zu einem innerlichen Verhältnis zu Gott bringen könne, könne man ihn zur Kunst bringen. Auf beiden Gebieten müsse die Seele selbst das Letzte und Schwerste tun. Aber hinleiten zu diesem Höchsten, Hindernisse wegräumen, Voraussetzungen schaffen, da könne ein Mensch für den anderen Manches tun.

Immer wieder taucht bei Kolb der Begriff Rhythmus auf. Die takterzeugende Maschine, die unser rhythmisch beseeltes Kunsthandwerk getötet habe, stehe den aus dem Blute stammenden rhythmischen Formkräften, die auf geheimnisvolle Art die Hand des schaffenden Künstlers führen, entgegen. Die rhythmische Einheit sei dem heutigen Zivilisationsmenschen abhanden gekommen, sie hätten zu viel vom Baum der Erkenntnis gegessen und seien zu intellektualistisch geworden. Kolb bezeichnet dies als einen Fluch, der tief im Lebensmark sitzt.

Das Kind sei demnach kindlich zu halten, auf der Stufe des naiven Erlebens. Dieser Zustand könne nicht lange genug währen. Das Kind habe bis zur Beendigung der ersten Reifezeit ( 13. Jahr) in der Regel weder das Bedürfnis noch die Fähigkeit, sich bewusst mit der Außenwelt auseinanderzusetzen. Das Schauen des Kindes speist sich nicht aus der umgebenden Realität, es erwächst aus dem Unbewussten, dem „Urgrund der Seele“ und findet in der Phantasie seine Erfüllung. In der Schule solle demnach im Einklang mit der Natur während dieser Periode vorwiegend phantasiemäßiges Gestalten betrieben werden. Erst vom 15. Jahr an sei der Schüler reif zum denkenden Erfassen perspektivischer Gesetze. Man darf im Unterricht nur die den jeweiligen Altersklassen entsprechenden Bildungsaufgaben stellen. Alle Einflüsse aus der Formensprache der Erwachsenen sind solange fernzuhalten und zu lenken, bis der Schüler nach der Pubertät den Anschluss an die Wirklichkeit gefunden hat und aus der Welt der unbewussten Gestaltung in die Welt der bewussten Gestaltung unter Zuhilfenahmen der Naturformen vorstößt.

Jeder Kunstleher solle ein guter Erzähler sein, solle selbst voll innerer Bilder sein, die der Seele des Kindes abgelauscht sind und ihm Anregung zu Form- Farb- und Lichterlebnissen geben. Eine Stunde mit Wandtafelzeichnungen oder der Präsentation von Reproduktionen zu beginnen ist für Kolb der größte Fehler, den man machen kann. Wenn die Einleitung in die Aufgabe erfolgt ist und die Schüler mit dem praktischen Arbeiten beginnen, soll jene „heilige schöpferische Stille eintreten, ohne die keine innere Sammlung möglich ist“. Nach etwa einer Viertelstunde gehe der Lehrer „leise“ von Schüler zu Schüler, um sie als „helfender Freund“ weiter zu beraten. Niemals aber solle er in die Schülerarbeit eigenhändig eingreifen. Dadurch würde er den zarten rhythmischen Organismus der kindlichen Leistung zerstören. Am Ende der Stunde werden die fertiggestellten Arbeiten an die Wand geheftet und gemeinsam betrachtet. Es erfolgt eine Aussprache, bei der die Schüler selbst Stellung beziehen, dann erst der Lehrer zum Vergleich anregt, vorsichtig lobt und die noch schwächeren Schüler ermuntert.

Als Unterrichtsinhalte soll der Lehrer gefühlsbetonte Stoffe wählen: Märchen, Zigeunerlager, Geburtstagstisch, der Teufel und des Teufels Großmutter, der Gespensterwald und es weihnachtet. An einem konkreten Beispiel verdeutlicht er, dass es immer besser sei auf eine naturalistische Vorstellung zu verzichten. Er stellte ein Märchen im ersten Fall mit Hilfe von Abbildungen und Lichtbildern vor, ein anderes Mal verzichtete er darauf. Die Zeichnungen, die auf dem zweiten Wege entstanden waren in seinem Sinne wertvoller im Sinne künstlerischer Erziehung. Neben phantasiemäßigem Gestalten solle in der Phase des „Robinsonalters“ auch das Darstellen nach der Anschauung geübt werden.

z.B. geht der Darstellung eines Vogels eine kurze Aussprache über den Vogel im allgemeinen voraus. „den scharfen, hackenförmigen Schnabel zeichneten wir kurz an die Wandtafel und wischten ihn gleich wieder aus. Wir sprachen von den Deckfedern, die sich wie Schuppen übereinander legten, vom Kopf nach der Mitte allmählich größer werdend und nach hinten wieder kleiner, dann erlebten wir den Vogel als Flugmaschine. Wir breiteten die Arme wie Flügel aus und wiegten uns in den Lüften...“In diesem Alter findet auch einfache Werkarbeit seinen Platz: „dekoratives Gestalten auf der Fläche“, „körperliches Gestalten“ und „Sachzeichnen“. Kunstbetrachtung tritt im unmittelbaren Anschluss und in engstem organischen Zusammenhang mit den Gestaltungsübungen, als Ergänzung zu ihnen auf. z.B. Totentanzbilder von Holbein, der Isenheimer Altar, das Abendmahl Leonardos und der Tag von Hodler.

Kolbs Publikation „Bildhaftes Gestalten“ war Mitte der 20er Jahre der fachdidaktische Maßstab, an dem andere gemessen werden konnten. Obwohl nach dem Krieg der Name Kolbs durch seine starke Identifizierung mit dem Nationalsozialismus zurückgedrängt wurde, findet man dessen Tenor auch bei manchem Nachkriegsautor (z.B.:Schwerdtfeger: Bildende Kunst und Schule). In Kunst und Jugend wurden die Anregungen Kolbs unterschiedlich methodisch ausgelegt. Manche Kunstpädagogen verzichteten ganz auf verbindliche Aufgaben und sorgten dafür, dass den Schülern anregendes Material und sinnliche Anregungen wie Musik und Rhythmik zur Verfügung stehen. Ziel des Unterrichts für den Österreicher Friedrich Natorp sei die Lockerung und Befreiung aller „seelischer Hemmungen“. Er schildert dies in einem Beispiel:

„Der Schüler kommt in die Zeichenstunde, holt sich nach alter Gewohnheit einen Topf oder dergleichen aus dem Modellschrank und quält nun in langer, hoffnungsloser Bemühung eine äußerst unerfreuliche, aus harten, drahtartigen, lieblos hingeackerten Umrisslinien bestehende Sache auf, vielmehr in das Papier hinein. Ich frage nach seiner letzten Zensur im Zeichnen. `Genügend`. Schön. Mir genügts nicht. Ja, ich habe es immer so gemacht. Das hilft Die hier gar nichts. Wenn Du schon unbedingt diesen Topf abzeichnen willst, dann musst Du es so machen. Nun nehme ich die Sache in die Hand und überschütte den Ahnungslosen oft viertelstundenlang mit der ganzen Fülle dessen, was am Modell zu beobachten ist, Licht, Schatten, Perspektive, Vordergrund, Mittelgrund, Hintergrund, Rahmen, Materialbehandlung, kurz mit allem, was irgendwie herangezogen werden kann, bis dem Ärmsten jede Hoffnung, es jemals zu einer naturgetreuen Leistung zu bringen, wirksam vernichtet ist. S. nun setz Dich hin und male etwas aus dem Kopf. Nach längerem Vor sich hinstieren: Mir fällt nichts ein. Ich zeichne ihm einen Rahmen und schreibe eine Überschrift dazu, je nach dem Eindruck, den ich schon vorher von dem Jungen hatte, etwas: „ Aus dem Zauberland, Leben und Treiben in der Hölle, der Osterhase, Wintersport, Landschaft mit Auto usw. und verlange nur, dass der Rahmen auch voll ausgenutzt wird. Es dauert nicht lange, dann fängt er an, intensiv und mit Liebe und Hingabe zu arbeiten und vergisst ganz die Richtigkeit des Dargestellten. Ich lasse es ihn bunt ausmalen und habe nach diesem ersten Anstoß ein Bild in der Hand, das wenigstens die Keime dessen erkennen lässt, was später in immer größer werdender Schönheit sich offenbaren wird...“

Evokation des Gefühls und ihr bildnerisch-produktiver Niederschlag wird mit künstlerischem Inhalt und mit künstlerischen Fähigkeiten identifiziert. Das bedeutet sowohl einen Fortschritt für das Fach wie auch den Verlust der Orientierung an der Kunst. Der Fortschritt der Reformmethode zeigt sich an der Auflockerung des Pestalozzi-Zeichendrills. Das Fach öffnet sich: freier Umgang mit Farbe, Formen in Plastilin oder Ton, abstrakte Übungen, Plakat- oder Schriftgestaltung, Schmuckpapiere usw. werden neue Unterrichtsgegenstände. Letztlich ist der neuen Methode jedoch vorzuwerfen, dass die gesellschaftlich nicht aufklärend wirken kann. Die Vertreter des „Bildhaften Gestaltens“ erhoben den seelischen Gehalt zum entscheidenden Wert ihres Unterrichts. Sie vernachlässigtren das Bemühen der Schüler, Hilfen zur Weiterentwicklung ihrer schulischen Leistungen zu erhalten sowie pragmatische und intellektuelle Fähigkeiten zu erwerben. Diese Erziehungstheorie ist somit ein Ausläufer der reformpädagogischen Erziehungsrichtung „vom Kinde aus“. Was im Kaiserreich gesellschaftskritisch gemeint war wird in den 20er Jahren zunehmend zur bloßen Mystifikation.

 

Gegenstimmen gegen den Idealismus : Nord-Südkonflikt – Gegner Kolbs

Die herrschende kunstpädagogische Strömung der Jahre von der Kunsterzieherbewegung bis zum Beginn der zwanziger Jahre war eine mehr naturwissenschaftlich orientierte Auffassung eines naturalistischen oder auch impressionistischen Kunstbegriffs. Es ist die Zeichenlehrergeneration der Vorkriegszeit, deren zentrale Gedanken in dieser Zeit formuliert und diskutiert wurden. Nicht Kunst statt Wissenschaft, sondern Kunst und Wissenschaft war die Losung Konrad Langes. In Kunst und Jugend diskutiert man 1921 das Verhältnis von Handwerk und Zeichenlehrerausbildung, den „guten Geschmack des Alltags“ und das „Sehen lernen“. Echtes, ehrliches Handwerk solle die Grundlage eines neuen Aufschwungs bilden. Dem Zeichenlehrer komme dabei die Aufgabe des Vermittlers zu, der neben dem Wissen „noch besondere künstlerische Einfühlungsfähigkeiten und manuelles Gestaltungstalent“ besitzen müsse. Bis zum Jahr 1922 findet man noch derartige Berührungspunkte mit den Bedürfnissen der Produktion. Danach werden solche industriellen Reorientierungen, die latent die Geschichte des Zeichenunterrichts seit der Mitte des 19. Jh. begleiteten, im Zeichen des Neuidealismus fallengelassen. Je mehr sich die beim Bürgertum als Krise wahrgenommenen nachrevolutionären Jahre zu ihrem Höhepunkt im Jahre 1923 steigerten, desto mehr traten weite Teile der Mittelschichten die Flucht in idealistische Theorien an. Die pseudoreligiöse Sprache und die zunehmende Flucht zur Seele hatte handfeste materielle Hintergründe. Gerade die benachteiligte Beamtengruppe der Zeichenlehrer hatte eine besondere Affinität zum Irrationalismus.

Gegen das Bildhafte Gestalten formierte sich eine Gruppe Kunstpädagogen an der Berliner Kunstschule um den Maler Philipp Franck. Sie stand in enger Verbindung mit dem Bauhaus, dem typischsten Repräsentanten des neuen Typs einer Kunstschule. Man sammelte die notwendigen Erfahrungen an sogenannten „Übungsschulen“, die die Kinder freiwillig besuchten. Daraus entwickelte sich eine Theorie und Praxis an der Kunstschule, die sich ganz entscheidend von der Kunsterziehung lebensphilosophischer Provenienz unterschied. Während der gesamten Dauer der Weimarer Republik ist ein latenter Nord-Südkonflikt zwischen den Berlinern und den Anhängern Kolbs zu beobachten. Kunst selbst ist für Franck nicht lehrbar. Lehrbar sei hingegen die Grundlage aller Kunstbetätigung, das Handwerk. Wie Gropius geht er davon aus, das der Künstler eine Steigerung des Handwerks sei. Franck war davon überzeugt, dass das Kind keine Befriedigung an seinem Tun findet und die Motivation schnell versiegt, wenn es nicht handwerklich so viel lernt, dass dieses Können eine solide Grundlage für die Weiterarbeit an einem Produkt bietet. Daher sei ein gewisser „Drill“ und eine straffe Anleitung für den Kunstunterricht unerlässlich. Zum anderen sei auf eine gewisse Vielfalt der handwerklichen Betätigung zu achten, damit die unterschiedlichsten Begabungen der Schüler zu ihrem Recht kommen. Es sei leicht „amüsante“ Kinderzeichnungen hervorzubringen. Doch wird unter dem wachsenden Einfluss der Selbstkritik an der eigenen Produktion bald die Schaffenskraft des Kindes schwinden. Kinder teilen nämlich nicht die Freude der Erwachsenen an naiven, ungekünstelten Kindesleistungen. Schüler wollen lernen. Die Erkenntnis über Kunst und der Gewinn aus ihr könne nur durch das Abarbeiten am Gegenstand der Kunst erfolgen.

Eine kleine Gruppe innerhalb der Zeichenlehrer als Vertreter der sogenannten Zeichenwissenschaft wird von Wilhelm Ostwald, dem Begründer einer wissenschaftlichen Farbenlehre und Karl Ludwig Krieger vertreten. Sie werfen dem Kunstunterricht vor, dass er nichts geleistet habe. Kunst lasse sich weder lehren noch lernen, da sie auf angeborenen Besonderheiten beruhe. Das Ziel der Erziehung müsse immer die objektiv gültige Ausdrucksweise sein. Die Distanzierung zu Hartlaub ist mit derartigen Forderungen unübersehbar. Sie forderten eine systematisch aufbauende Seh- und Erkenntnislehre. Man wolle Methoden ausfindig machen, die dazu dienen könnten, dass technisches und künstlerisches Zeichnen zum Gemeingut des deutschen Volkes und zur Weltsprache werde. Kriegers Vorstoß, seine Theorie als Grundlage für die neue Prüfungsordnung zu konkretisieren kam 1922 zu spät, da das Stigma der Wissenschaftlichkeit einem Publikationsverbot in Kunst und Jugend gleichkam. Gustav Kolb konterte in dieser Zeitschrift, dass er die Gestaltungskräfte als Gegenstand des Kunstunterrichts vernachlässige. Nicht die Wissenschaften seien Gegenstand des Kunstunterrichts. Mit den Worten „ Gott bewahre die deutsche Jugend und ihre Lehrer vor dem neuen Kalb, das sie ihnen schenken wollen“, beschließt er jede weitere Diskussion. Wilhelm Ostwald veranstaltete den „ersten deutschen Farbentag“, 1919, was zur Folge hatte, dass Farbenlehre an vielen Schulen in den Lehrplan miteinbezogen wurde. Auch dagegen zogen die Vertreter von Kunst und Jugend, allen voran Adolf Hölzel ins Feld. Sie empfanden die Einführung der Ostwaldschen Farbenlehre als eine Knebelung des freien Schaffens und eine nicht wieder gutzumachende Schädigung der heranwachsenden Generation (Hölzel verbreitete seine Farbkästen, Farbtafeln, Farbkreisel etc. über die Firma Pelikan, Ostwald arbeitete mit der Firma Marabu zusammen).

 

Neue Sachlichkeit - Reaktion gegen die verhasste Moderne –Anleitung statt Anregung

Mit dem Einströmen amerikanischen Kapitals Mitte der 20er Jahre kam es in Deutschland zu einer wirtschaftlichen Stabilisierung. Gleichzeitig wurde auch ein gewisser amerikanischer „way of life“ importiert. Der damit verbundene Pragmatismus wurde in Kunst und Jugend als „Mechanei“ verdammt. Es entwickelten sich Gegensatztypen wie deutsch/undeutsch und Leben/Mechanei. Umgekehrt gerieten in der gesellschaftlichen Debatte die schöpferischen Reservate, die die Kunsterziehung zu pflegen versuchte aufgrund des amerikanischen Beispiels auch in die Kritik, wenn ein Landtagsabgeordneter 1926 z.B. äußert, dass er sich gegen die Auffassung des sich in die Seele des Kindes- Hineinlebens stelle und behaupte, dass unsere Kinder später den Kampf mit dem Leben aufnehmen müssten. Man sprach sich gegen die Verweichlichung aus. So erfährt allgemein die Welle des pädagogischen Enthusiasmus um 1925 in eine gewisse Abkühlung. Franz Roh und Hartlaub registrieren in diesen Jahren mit den Begriffen „Neue Sachlichkeit“ und „Magischer Realismus“ eine neue Tendenz in der Malerei. In Kunst und Jugend äußert sich das Umdenken in einem bissigen Artikel des Schriftleiters Otto Democh, in dem er mit der modernen, ungegenständlichen Kunst, mit dem irrenden Künstlergehirn Picassos, der Zerridee einer ungegenständlichen bildenden Kunst und dem Spiel mit den bildnerischen Mitteln, mit dem die Studenten im Bauhaus-Vorkurs experimentierten radikal abrechnet. Derartige Äußerungen riefen in der Fachpresse keinen Widerspruch hervor und antizipierten bereits die ideologischen Grundlagen der Kunstpädagogik im Faschismus. So stellt 1925 auch Heinrich Grothmann fest, dass die Hinführung zum richtigen Sehen, einem Sehen lernen, das in der bildenden Kunst dem germanischen Wesen adäquat immer nur dem Vorbild der Natur folgen könne. Die Stimmung der lebensphilosophischen Kulturkritiker schlug in eine Generalabrechnung mit der verhassten Moderne, zu der die älteren Zeichenlehrer sowieso nie ein Verhältnis gefunden hatten, um. Kunsterzieher, die sich zu Beginn des Jahrzehnts zu dem freien Entfalten schöpferischer Kräfte bekannt hatten, hatten nun das expressionistische Treiben satt und forderten Lehrpläne statt Richtlinien. Man wollte eine stringente Theorie, Fachausdrücke nach wissenschaftlichen Wertungen, Lehr- und Lernbares, einen systematischen Lehrgang im Zeichenunterricht. In vielen Artikeln wird mit der Erlebniskultur und dem Kult der Seele kritisch abgerechnet.

So schreibt der Münchner Studienrat Capeller: „ die allgemein bildende Schule ist in erster Linie zum Lernen da, nicht zum schöpferischen Gestalten“. Auf der Hauptversammlung der Reichsverbände 1927 in Karlsruhe sprach sich Theodor Litt deutlich gegen eine einseitige Betonung der Pädagogik des „Wachsenlassens“ und für eine Stärkung der Position des „Führens“ aus. Er sieht Aufgaben der Kunsterziehung auch in der Vermittlung von Sachaufgaben, wie das Arbeiten mit Farben und Formen im Zusammenhang von entwickelten Fachinhalten der Grammatik und Logik. Der Schüler sei auch im Kunstunterricht zu leiten und zu anzuweisen.

In einer Rede des Jahres 1927 versuchte auch G. Hartlaub pädagogische Forderungen aus der Entwicklung vom Impressionismus über Expressionismus bis hin zur Neuen Sachlichkeit abzuleiten. Nach der allzu utopischen sozialen und idealen Weltrevolution sei nun auch in der Malerei die Rückkehr zu gegenständlicher Gestaltung in sachlich kahler, das Konstruktive und Technische betonende Exaktheit, die parallel mit dem abstrakten Konstruktivismus und mit der neuen amerikanischen Ingenieursbaukunst zusammengeht, als eine Art Rückschlag zu einer wissenschaftlich-objektiven, linear-realistischen Formensprache eingetreten. Diese Neue Sachlichkeit solle lehren, die Grenzen einer expressionistischen Erziehung aufzuzeigen, ohne jedoch das im Expressionismus Erreichte wieder rückgängig zu machen. Von seiner Aussage des Jahres 1922, dass jeder Einfluss des Erwachsenen das Kind nur negativ beeinflusse, distanziert sich Hartlaub 1927 deutlich. Das Kind sucht im Lehrer nicht seinen „Kameraden“, sondern den „Führer“. Ab der Obertertia solle der Zeichenunterricht das bis dahin mit Recht zurückgestellte Gebiet des nachahmenden, technisch-wissenschaftlich darstellenden Zeichnens nachholen, wobei die saubere Linearzeichnung neben ihrer berufsverwertbaren Qualifikation auch eine wahrhaft ästhetisch zu bewertende Qualität besäße. In der Oberstufe käme neben diesem „Zeichnen Können“, losgelöst von Kunstabsichten die Betrachtung klassischer Kunstwerke hinzu. Es sei Aufgabe der Zeichenlehrer dem jungen Menschen die Erkenntnis der Kunstmittel zu geben, mit denen diese Kunstwerke geschaffen sind, also eine formale und technischen Analyse der aufbauenden Elemente.

 

Die Theorie Britsch-Kornmann – Gestaltungslehre statt „Erlebniskultur“

Für Kolb war Hartlaub nun unter dem Eindruck der Neuen Sachlichkeit „völlig aus dem Sattel geworfen“. So kam es zu einer Spaltung innerhalb der Kunstpädagogik der Weimarer Republik: Anhänger der Erlebnispädagogik standen denen gegenüber, die nach einer konkreten Gestaltungslehre verlangten, wie sie Egon Kornmann im Jahre 1926 veröffentlichte. Sein Aufsatz in Kunst und Jugend „Kunsterziehung und exakte Kunstwissenschaft“, versprach auf Grundlage der „Theorie der Bildenden Kunst“ des 1923 verstorbenen Kunstwissenschaftlers Gustav Britsch den Zeichenlehrern eine neue an sachlichen und klaren Kriterien messbare Theorie des Fachs. Am vergleichenden Beispielen der Volkskunst und der Kinderzeichnung zeigt Britsch, dass die Entwicklung bestimmten Denkbedingungen in aufeinanderfolgenden logischen Stufenfolgen unterliegt. Jede Gestaltung eines Kindes stellt innerhalb seiner künstlerischen Denkbedingung einen „wahren künstlerischen Wert“ dar. Will man diese „reine Gestaltung“ als Leistung des Kindes zu bildnerischer Qualität weiterführen, dann darf man unter keinen Umständen diese Klarheit der Stufenfolgen behindern. Wenn Kunsterziehung an den Denkmöglichkeiten des Kindes anknüpfe, diese erhalte und weiterentwickle, d.h. eine Einheitlichkeit im künstlerischen Denken herstellen könne, dann führe dies zur Volkskunst, zu „selbstständiger künstlerischer Leistung einer Volksgemeinschaft“. Für Britsch unterscheidet sich die künstlerische Tätigkeit und künstlerische Sinneswahrnehmung nicht nur von der wissenschaftlichen, sondern ist dieser überlegen. Das Sehen wird für ihn zu den Erlebnissen des „Gesichtssinnes“. Der Akt der Gestaltung des bildenden Künstlers ist eine besondere Art geistiger Leistung der Verarbeitung dieser Erlebnisse. Künstlerische Qualität zeige sich nicht an anatomischer, perspektivischer Richtigkeit, an einem naturwissenschaftlich orientierten Naturstudium und ebenso wenig durch das Ausleben seelischer Erregungszustände. Diese Kriterien seien für die Bestimmung der bildnerischen Qualität irrelevant. Künstlerische Qualität kann man nur kraft einer ganz bestimmten geistigen Voraussetzung erreichen. Diese Voraussetzung des Gestaltenkönnens liegt ausschließlich im Gebiet der „reinen Gesichtsvorstellung“. Der herausragende Künstler zeichne sich demnach durch diese besondere Art geistiger Leistung aus. Diese „künstlerische Denkleistung“ wird von der Theorie der Bildenden Kunst streng von einer wissenschaftlichen „Denkleistung“ abgegrenzt. Die Lehre kann unter Würdigung dieser Denkleistung allgemeine künstlerische Urteile aussprechen, Kunst von „Unkunst“ unterscheiden. Mit Kenntnis der Theorie besitzt man den zeitlosen Schlüssel für die Bestimmung dessen, was bildnerische Qualität ist. In diesem Sinne lehnt schließlich Kornmann alle Kunsttätigkeit des 19. Jh. ab, die in unkünstlerischem Naturalismus fast erstickt ist. Unkunst sei alles, was „gebildnert“ und nicht formschöpferisch gestaltet ist, so auch der Impressionismus und der Expressionismus.

Für die Kunsterziehung folgert Kornmann, dass alle technischen oder außerkünstlerischen Gesichtspunkte als Methoden und Inhalte der Kunsterziehung nicht dazu dienen können, zur eigentlichen künstlerischen Qualität zu erziehen. Entgegen allen Gestaltungsversuchen von Erwachsenen sei die unbeeinflusste Gestaltung des Kindes immer eine „reine“ Gestaltung. Das Kind kennt noch keine Unkunst. Davon ausgehend führt für Kornmann eine ganz gerade Linie zu früher Kunst. „Alle große frühe Kunst, wie etwa die ägyptische... ist nichts weiter als die geradlinige Weiterführung der Gestaltung des Kindes. Und was an späterer Kunst noch groß ist, was nicht dem Naturalismus verfallen ist, das ist wieder nichts anderes als die höchste Differenzierung der reinen Gestaltung der Frühkunst.“ Führt man das Kind von Stufe zu Stufe und vermeidet man Themen, die perspektivische, proportionale, anatomische und seelische Aufgabenfelder beinhalten, dann wird es laut Kornmann auch keine bildnerischen Probleme, die die Pubertät mit sich bringt, geben. Das Kind wird stufenweise bis zur Vorstellungszeichnung des Jugendlichen und weiter bis zur künstlerischen Berufsausbildung geführt. Für Kornmann liefert Britsch eine Theorie, eine Geisteswissenschaft, die die Kunsterzieher brauchen, um das Kernproblem der künstlerischen Erziehung zu fassen: die Erziehung zur bildnerischen Qualität. Nach Britsch sind die Arbeiten der Schüler „Urkunden der Vorstellungsmöglichkeit des Schülers“ und als solche nicht Gegenstand von Verbesserungen. Korrekturen zerreißen das einheitliche Denken der „Gesichtssinneserlebnisse“. Eine Steigerung der Schüler erfolge durch das Heranführen an Vergleichsmaterial, das mit der gleichen Denkstufe des Schülers korrespondiert. Für den Lehrer heißt das: erste freie Urkunden herauszuforden, diese durch Vergleiche befestigen und erweitern. „Lösen, pflegen und entwickeln“.

Folgen der Britsch-Theorie

Diese Theorie wurde spätestens ab dem Jahre 1928, nach einer Rede Egon Kornmanns auf dem 6. internationalen Kongress für Kunsterziehung in Prag allgemein diskutiert. Manche Zeichenlehrer jubelten, dass sie nicht mehr wie zu Beginn der 20er Jahre allein von der Anregungskraft der Lehrerpersönlichkeit abhängig seien. Nun könne die Verpflichtung des Lehrers wieder eingelöst werden, die kindliche Entwicklung bewusst zu lenken. In einer Art Versuchsschule führte der Volksschullehrer Daiber in dem Dorf Stein bei Nürnberg über 5 Jahre die Britsch-Methode ein, deren praktische Ergebnisse er 1929 in einem Buch veröffentlichte, das viel beachtet wurde. Die entstanden Schülerarbeiten waren laut einer Rezension von einer verblüffenden inneren und äußeren Sachrichtigkeit und Schönheit: „Volkskunst in einem höchsten und einfachsten Sinne“.

Die Britsch-Lehre setzte sich gegen Ende der Weimarer Republik im Zeichenunterricht an Volks- und höheren Schulen, wie an Pädagogischen Akademien durch, wurde zur offiziellen Theorie in der Zeit des Faschismus und übte noch zu Zeiten der BRD großen Einfluss aus. Für die Kunstpädagogik der Weimarer Republik bedeutete der Siegeszug der neuen Lehre, dass die Auseinandersetzung mit der aktuellen bildenden Kunst, die Weiterentwicklung der Inhalte des Fachs sowie seiner Methodik und Didaktik und der Bezugswissenschaften Pädagogik, Psychologie, Soziologie und Kunstwissenschaft ausgeklammert wurden. Die Wirklichkeitserfahrung des Kindes wird ausgeblendet. Normative Vorstellungen Erwachsener von Kunst werden auf naturgegebene „Denkbedingungen“ angewendet. In dieser „Denkbedingung“ wird das Kind belassen, dressiert. Lernen ist hier keine Auseinandersetzung, kein Reagieren, Abarbeiten und Weiterentwickeln. Für die Schüler kennt dieser Unterricht keine intellektuellen, wissenschaftlichen, gesellschaftlichen, antizipatorischen Ansprüche, kennt kein Entdecken, Selbstdarstellen, Experimentieren, Spielen, Überraschen. Das von Erfahrungen und Realität gereinigte System eignete sich hervorragend, Fragen zu intendieren, die von der Antwort des faschistischen Systems bereits vorformuliert wurden (Otto), d.h. das politische, pädagogische und gestalterische Wunschbild konnte in diesem Unterricht erzeugt und das Ergebnis kontrolliert werden.

Zur Verbreitung der Gedanken Britschs und Kornmanns trug nicht zuletzt die 1928 in Marktbreit gegründete „Schule der Volkschaft“ von Leo Weismantel bei, der 1929 eine Tagung zu Fragen der Kunsterziehung veranstaltete, auf der die Britsch-Lehre als „eindeutiger Sieger hervorging und wie eine Fahne der deutschen Kunsterzieherschaft vorangetragen werden solle“ (Kunst und Jugend).

 

Gegner der Neuen Lehre

Nicht alle Zeitgenossen begrüßten die Theorie Gunstav Britschs. Gustav Kolb und dessen Zeitschrift Kunst und Jugend verhielten sich skeptisch. Als eine zur damaligen Zeit anerkannte Autorität kritisierte der Ehrenvorsitzende des Reichsverbandes Georg Stiehler die neue Lehre. Ein Kunstunterricht, der Gedächtniszeichnen, Denkzeichnen, schematisches und typisches Zeichnen, sowie Perspektive, Anatomie, Proportionslehre, Naturstudium und das seelisch, gefühlsmäßige Ausdruckszeichnen ablehnt, beraube sich seiner Möglichkeiten. Diese Theorie gehe in ihrer Beschränkung auf Gesichtssinneserlebnisse an der Kindeswirklichkeit vorbei. Erich Rhein kritisierte stellvertretend für andere noch 1953 die Verfahrensweisen im Unterricht der „Britschianer“ als eine Methodik des harten Bleistifts, bar jeder Vitalität und individuellen Führung, bar jeder Einfühlung wie der Experimentierfreudigkeit. Da gibt es Kinderzeichnungen, alle fein säuberlich dressiert, schön auf der Stufe geblieben, vielleicht formeinheitlich, aber unindividuell und temperamentlos, oft additive Sitzfleischleistungen. Zu Beginn des Jahres 1933 erreichte die Auseinandersetzung beider Lager ihren Höhepunkt. Kolb wetterte gegen die Brisch-Kornmann- Anhänger in Kunst und Jugend. Sie vergewaltigten ihre Schüler, steckten sie in eine formalistische Zwangsjacke, die „ wohl den Kollektivismus und die Uniformität eines bolschewistischen Zuchthauses, niemals aber eine aus dem Erbgut von Blut und Rasse organisch gewachsene, freie Kunstentwicklung bringen kann“. Daraufhin erklärte Hans Herrmann, dass er außer Stande sei, weiterhin in Kunst und Jugend zu publizieren und gründete die Fachzeitschrift „die Gestalt“ (die noch heute im selben Tenor erscheint!). Was Kolbs „Bildhaftem Gestalten“ nicht gelungen war, erreichte die „Theorie der Bildenden Kunst“ von Britsch und Kornmann. Sie wurde eine wichtige Grundlage der Kunstpädagogik im Faschismus.

 

Wirtschaftliche Gründe für die Aushöhlung der Demokratie nach 1932 – Anschluß an den NSLB

Infolge der Reichsschulkonferenz 1920 wurden einige schon seit der Kunsterzieherbewegung geforderten Leitsätze, wie die Forderung, dass alle Kunstlehrer eine Ausbildung erhalten, die derjenigen der wissenschaftlichen Fächer gleichartig sei, sowie die Anerkennung der künstlerischen Fächer als gleichwertig endgültig akzeptiert. Dies war im wesentlichen der Durchbruch des Fachs auf dem Weg zu einem vollwertigen und gleichberechtigten Unterrichtsfach der allgemeinbildenden Schulen. Nach einer ersten Krise um 1924 stabilisierte sich die Lage nach 1925 wieder. Mit der großen Inflation Ende 1929 verschlechterte sich jedoch die soziale und wirtschaftliche Lage der Zeichenlehrer drastisch. Das Fach wurde immer mehr beschnitten, Gehälter gekürzt, Stunden abgebaut. Das Misstrauen in die Demokratie und der allgemeine Pessimismus unter den Zeichenlehrern nahmen immer stärker zu. Drastische Sparmaßnahmen des Jahres 1931 führten zu einer vielbeachteten Protestveranstaltung in Berlin. Im Jahr der Machterhebung wurde der Reichsverband aufgelöst und dem NSLB angeschlossen. Die neue Regierung stellte Ostern 1933 die alten Stundentafeln wieder her, was Gustav Kolb zu den Worten veranlasste, dass ein „frohes Aufatmen“ durch die Reihen der deutschen Zeichenlehrerschaft ginge. „Diese Tat“, so schrieb er, „ hat für uns symbolhafte Bedeutung. Wir erkennen in ihr die Erziehungsgesinnung der nationalsozialistischen Bewegung“. Die Stärkung des Fachs Kunsterziehung in politisch und wirtschaftliche kritischer Zeit durch die Nationalsozialisten hatte ihre guten Gründe. Die lebensphilosophische Formel vom „Geist als Widersacher der Seele“ erreichte unter den Nationalsozialisten ihre Zuspitzung. Die Seele wurde gegen die Technik, Musische Bildung gegen Intellektuelle Bildung, der musische Mensch gegen den Verstandesmenschen ausgespielt und verächtlich gemacht. Die Formel wurde zur Erklärung und Rechtfertigung eines zutiefst antidemokratischen Denkens. Mit dem Stigma des Intellekts waren alle modernen und avantgardistischen Künstler gemeint. Den Abbau des Zeichen- und Kunstunterrichts nach der Wirtschaftskrise hätten nur „gänzlich amusische“ Menschen vollziehen können. Der Kunsterziehung kamen bei der Erziehung des neuen Menschen eine besondere Aufgabe zu. Die Theorien, derer sich die Nationalsozialisten bei dieser Erziehung bedienten waren nicht neu. Neu war die brutale Art und Weise, in der sie ihre eklektizistischen Gedanken auf Grundlage einer „völkischen“ Anthropologie in die Praxis umsetzten. Nach 1936 fällt die Theoriediskussion aus. Es gibt keine Innovatoren der Kunstpädagogik mehr, die das Fach offen halten könnten und mit zunehmender Dauer der NS-Herrschaft verflacht die Kunstpädagogik theoretisch und methodisch auf ein unterstes Niveau ihrer Geschichte.