Erasmus-Grasser-Gymnasium, München                                                                                                                      Gensbaur                                      Seminar für Kunsterziehung

 Zeichenunterricht im 19.  Jahrhundert

Überlegungen zu einem Zeichenheft aus dem Jahr 1758

(Zusammenfassung eines Aufsatzes von Gunter Otto in K&U, Heft 228/1998)


 

G.Ottos Frage nach dem Zeichenunterricht des 19. Jh. entzündet sich an einem Schreib-und Zeichenheft des Jahres 1758, das ihm in die Hände fiel. Es stammt, so schließt er aus den Darstellungen, von einem 10-12-jährigen Kind. Er fragt, was das Kind bisher im Zeichenunterricht gelernt haben mag, falls er denn überhaupt einen gehabt haben mag. Man sieht hier Architekturen in präziser Vorderansicht, räumliche Darstellungsprobleme werden durch Überdecken gelöst, Binnenformen werden durch architektonische Details und stereotyp wiederholte dekorative Elemente gefüllt.

Hat der Schüler, so fragt Otto, einen privaten Unterricht erhalten? Seiner Meinung nach spricht die Konsistenz im Duktus beider Heftseiten gegen Vorlagenzeichnung. Otto zitiert einen "Lectionszeiger" des Jahres 1828, der die Arbeitsfelder (heute würde man sagen Fächer) für Volksschulen aufführt: Lesen, Sprache, Schönschrift, Rechtschreiben, Unterricht in schriftlichen Sätzen, Denkrichtungsunterricht, schriftlicher Rechenunterricht, Religion, Verstandesübungen, nützliche Kenntnisse, Schuldisziplin. Das vorliegende Heft wäre demnach am ehesten dem Schönschreibunterricht zuzuordnen, wenn es diesen schon 1758 gegeben hatte. Erst im Jahre 1872 werden für alle Schulen Preußens 2 Stunden wöchentlicher Zeichenunterricht ab dem 2. Schuljahr eingeführt.  Für das 2. und 3. Schuljahr wird Netzzeichnen nach der Methode Stuhlmann verordnet. Daraus folgert Otto, dass unser Schüler im Alter von 10-12 Jahren auch 120 Jahre später diese Blätter nicht im Kunstunterricht hätte anfertigen können. Er hätte stattdessen "Netzzeichnen“ müssen. Zeichenlehrer gab es an Preußens Schulen erst ab dem Jahre 1885 und das auch nur an den Höheren Schulen. Das Lehrerseminar für Volksschulen und Realschulen wurde hingegen in Berlin im Jahre 1748 gegründet.

Was hat man sich also unter Zeichenunterricht im 19. Jh. vorzustellen?

Der Zeichenunterricht an den Volksschulen bekommt einen ersten Impuls mit Pestalozzi und seinen Schülern (Joh.H. Pestalozzi (1746 – 1827) war Begründer und Leiter versch. Erziehungsanstalten, denen teils Lehrerbildungsanstalten angeschlossen waren. Er strebte eine umfassende Menschenbildung an.  Sein ABC der Anschauung und der Grundelemente Zahl, Form und Wort bewirkten eine grundlegende Reform des Elementarunterrichts. Dem mutmaßlichen Schüler standen im Jahre 1758 weder die Erkenntnisse Pestalozzis noch die Hilfsmittel, Lehrgänge und Vorlagenwerke des 19. Jh. "für Schule und Haus" noch nicht zur Verfügung. Auch die als Selbstbildungsmittel konzipierten Münchener Bilderbögen gibt es erst ab 1849. Die aufkommende Vielfalt dieser Bildungsmittel hat nicht nur mit der Aufklärung zu tun sondern auch mit den aufkommenden Reproduktionsverfahren, wie z.B. der Erfindung der Lithographie 1790.

Hätte der viel später erst konzipierte Zeichenunterricht dem Zeichner des Jahres 1758 etwas nützen können und wenn ja, was?  Zwei Verfahren bietet das 19. Jh. an: die Pestalozzi-Methode, sowie das Vorlagenzeichnen. Pestalozzis ABC der Anschauung beruht auf der Methode Erklären, Zeigen, Vormachen. Das zunächst für den Schreibunterricht entworfene Konzept sollte im Folgenden auf alle anschaubaren Formen ausgedehnt werden. Für den Zeichenunterricht bedeutet das: 1. Vorzeigen der betreffenden Figur und genaue Beschreibung derselben, 2, Vorzeichnung des Lehrers an der Wandtafel und zugleich Nachzeichnung durch die Schüler. 3. Aufsuchen von Gegenständen oder Figuren, deren Umriss nichts anderes ist, als die Anwendung einer behandelten Aufgabe.

Was sind demnach die eigentlichen Ziele eines Unterrichts nach Pestalozzis ABC der Anschauung und welche Folgen hatten sie für das gesamte Jahrhundert? Um eine Antwort auf diese Frage zu erhalten befragt G. Otto in seinem Aufsatz die in der Zeit zur Verfügung stehenden Arbeitsmaterialien- und hilfen, wie Vorlagen oder Aufgabenstellungen. Hätte also dieser "Vater des modernen Schulunterrichts" Joh. Christian Anregungen geben können?  Zeichnen nennt Pestalozzi eine linearische Bestimmung der Form, deren Umfang und Inhalt durch die vollendete Ausmessungskraft richtig und genau bestimmt werden. Im Zeichnen erfolge eine Ideenverbindung. Ohne Anschauung gebe es keine Begriffe. Um richtig denken zu können, muss man richtig angeschaut haben. Das Sehen aber ist eine Kunst und um richtig zu sehen, d.h. schnell und richtig einen Gegenstand in allen seinen Teilen und Verhältnissen nach Form und Farbe erfassen zu können, muss man lernen, eine gewisse Reihe von Übungen zu absolvieren, welche darauf abzielen, das Auge allmählich zu gewöhnen, alles vergleichend, prüfend und gruppierend zu betrachten. Dem richtigen Sehen liegen nach Pestalozzi "Normalfiguren" zugrunde, wie die gerade Linie, der Winkel, das Quadrat und der Kreis. Diese müssen nach Vorgaben geübt werden, bis die Kinder die "Ausmessungsformen" kennen und benennen können. Die Kinder sollen die Linien nachzeichnen können. So heißt Pestalozzis ABC der Anschauung auch "Anschauungslehre der Maßverhältnisse".

Laut Legler stellt Pestalozzi das Zeichnen also zunächst ganz in den Dienst der Messkunst. Kemp nennt es das abstrahierte Zeichnen. Was also, fragt Otto, kann aus heutiger Sicht bei dieser unterrichtlichen Aktionsform gelernt werden? Für Otto tritt hier das disziplinierende Moment neben dem formenden Charakter des Unterrichts in aller Deutlichkeit als dominant hervor. Für die vorliegende Zeichnung ist Pestalozzis Lehrangebot offensichtlich irrelevant. Für ihn ist es offensichtlich wichtig ein bestimmtes Haus, nicht irgend eines mitzuteilen. In der Systematik Pestalozzis ist dafür kein Platz.

Die Nachfolger Pestalozzis, Josef und Peter Schmid, Johann Ramsauer schreiben die Lehre im Prinzip fort. Viele "Kleinmeister" tragen die Lehre über Land in die Schulen. So hebt Justus Krauskopf 1828 hervor, dass es im Zeichenunterricht nicht um die mechanischpraktischen Fertigkeiten, sondern um richtiges Sehen, Vergleichen und Beurteilen ginge. Die auf Geschmack, Geist und Gefühl wohltätig wirkende Kunst und deren wahrer Zweck bei der Erziehung des Menschen, könne nicht durch mechanische Fertigkeiten erlangt werden. Seine Anweisungen hingegen empfehlen in einem ersten geometrischen Teil, das Auge der Schüler in dem nichtigen Auflassen und Beurteilen des geometrischen Verhältnisses der Gegenstände zu bilden. Die Fertigkeit solle beim Darstellen geübt werden, das Gefühl für das Schöne durch "geschmackvolle Muster". Dies alles geschehe nach Vorlageblättern unstreitig zweckmäßiger als nach wirklichen Gegenständen. Wie soll also der Übersprung von der Geometrie zur Kunst erfolgen? Hier vertrauen offenbar alle Pestalozzischüler auf einen “Automatismus des Schönheitssinns" im Kinde, wie Otto es nennt.

Eines der meistverwendeten Vorlagenwerke der Jahrhundertmitte ist Wilhelm Hermes “Systematische Zeichenschule". Ab 1840 erscheinen insgesamt 300 Hefte, jeweils in einem Papierumschlagblatt 4-6 Vorlagen. Der Aufbau geht immer vom Einfachen zum Schwierigen, von der Großform zur Detaillierung, von der Ansicht zur Schrägsicht.  Dies entspricht zweifelsfrei Pestalozzis Gedanken der Messkunst, Geometrie bzw. Linearität. Die Zeichnungen aus dem Jahre 1758 hingegen sind der Erinnerung, einer erinnerten Abbildung von einem "besonderen" Haus verpflichtet. Sie sind an bestimmten Stellen subjektiv, zumindest anteilig, wo seit Pestalozzi alleinobjektiv Messbares als Grundlage gelehrt wird. Es ist für Otto fraglich, ob mehr als diese Grundlagen gelernt werde. Der Schüler weiß jedenfalls selbst nicht wofür diese Grundlagen gelernt werden. Die Realisierung all dieser Vorschläge besteht im Kopieren von Vorlagen.

Für Pestalozzi war nicht der abgebildete Gegenstand, nicht die ähnliche Wiederholung von Gegenständen in der Zeichnung bedeutsam, sondern der Punkt und die Linie, das Ziehen von

Linien, der Erwerb der "Messkraft", der "Ausmessungskraft", die die Wahrnehmung sensibilisieren solle und schließlich die Kunst erfahrbar werden lasse.

Anfangspunkt der Mittel der Bildung des Kindes ist Punkt und Linie. Zeichnen ist eine linearische Bestimmung der Form, deren Umfang und Inhalt richtig und genau bestimmt wurde. Solche Zitate nach Pestalozzi aus den 20er Jahren des 19. Jh. richten sich alle gegen die Praxis des Vorlagenzeichnens und die Kopiermentalität. Sie überwinden diese jedoch nicht, sondern das Gegenteil tritt ein: Pestalozzis Unterrichtspraxis produziert ihre eigenen Vorlagen und reguliert darüber hinaus den Unterricht durch Kleinschrittigkeit, Kommando und Diktat. Sicher auch eine Folge des Unterrichts für alle, statt wie bei Joh.Christian, der entweder gar nicht oder privat unterrichtet wurde. Sicher war im 19. Jh. das Moment der Disziplinierung derartiger Praxis gewollt, ja programmatisch, Ordnung, Reinlichkeit und Zucht fallen mit der Form des Unterrichtsbetriebs zusammen. Letztlich kommt Gunter Otto zu dem Schluss, dass der Zeichner des Jahres 1758 etwas ganz anderes wollte als das, was ihm der im 19. Jh. institutionalisierte Zeichenunterricht hätte bieten können.

Der Beginn einer theoretischen Diskussion über Begriff und Wesen, Ziel und Inhalt der ästhetischen Erziehung wird gemeinhin bei Friedrich Schillers Briefen "Über die ästhetische Erziehung des Menschen" (1795) gesehen.  In der Pädagogik des 18. und 19. Jhs. wird der Begriff der ästhetischen Erziehung häufig Begriffen wie „Gemüthsbildung", "Gefühlsbildung", "Bildung des Geschmacks und der schönen Sitten" untergeordnet oder mit diesen gleichgesetzt. Erst gegen Ende des 19. Jhs. wird er durch den der "Künstlerischen Erziehung" oder auch "Kunsterziehung" weitgehend verdrängt.

J.J. Winckelmann gibt eine Kunstübung vor, die in „reiner Griechheit“ und „raffaelischer Schöne“ ihre Ideale sieht. Um dies zu lernen sind in seiner Lehre Elementarkörper zugelassen. Farbe spielt in dieser Welt, die auch in den Köpfen der Zeichenlehrer des 19. Jhs zementiert ist, keine Rolle.  Winckelmanns Ideale spiegeln sich noch um 1900 in den Mappenwerken mit Vorlagenblättern für den Zeichenunterricht. J.J.Rousseau bietet um 1760 seinem imaginären Zögling Emile nur wirkliche Dinge statt Vorlagen zum Zeichnen an, nimmt anfängliche „Sudeleien“ in Kauf und nennt statt Gedächtniszeichnungen und Phantasieformen nur das „wahre Aussehen der Dinge“ als Ziel eines Zeichenunterrichts. Dieser „negativen Erziehung“ setzt Pestalozzi seine Elementarlehre entgegen, die zu etwas erziehen will und die Messkunst in den Mittelpunkt rückt. Die „Kleinmeister“, wie Otto sie nennt, Ramsauer, P. Schmid, Fröbel, Krauskopf , Hermes u.a. setzen den von Pestalozzi eingeschlagenen Weg der Erziehung vom Einfachen zum Schwierigen im Zeichenunterricht fort. Das Vorlagenkopieren gipfelt nach Einführung des Schulfachs Zeichnen um 1875 in der Methode Stuhlmann (veröffentlicht 1883 f ). " In der Tat stellt das fünfbändige Kompendium a. Stuhlmanns "Der Zeichenunterricht in der Volks- und Mittelschule" sogar in der umfangreichen und an Kuriositäten nicht gerade armen Literatur zum Kunstunterricht eine gewisse Ausnahme dar" (Richter, 1981). Für ihn gehören die produktive und reproduktive Tätigkeit zusammen. Durch die Reproduktion gewinnt die innere und äußere Vorstellung Gestalt. Durch das Zeichnen wird eine solche reproduktive Tätigkeit geübt. In den Händen einer autoritären und allein der Disziplinierung verpflichteten Schule geriet das Angebot Stuhlmanns zu einem höchst fragwürdigen Instrument der Erziehung. Spätestens seit den Weltausstellungen um 1860 melden sich erste Kritiker am Formverfall, da der Fortschrittsglaube des Jahrhunderts in der Kunst seinen „blinden Fleck“ habe (Nietzsche, 1872). Es wird noch bis zu den Kunsterziehungstagen in Dresden, Weimar und Hamburg (1901-05) dauern, bis der von der englischen Kunstgewerbereform erstmals formulierte „zurück zu einer sauberen, handwerklichen Gesinnung und zurück zu eigenem Naturerleben“ Einzug in die deutschen Zeichensäle hält.

Lit.:  Katalog des BDK, Kind und Kunst, Berlin, 1976
         Kerbs,D., Historische Kunstpädagogik, Köln, 1976
         Kehr, W. , Kunstwissenschaft und Kunstpädagogik im 19. und 20. Jh., München, 1983
         Legler, W. Die Dr. Stuhlmannsche Zeichenmethode und die Bildung der Phantasie, in K+U, Heft 60, 1980
         Otto, G. Johann-Christian zeichnet ohne „Ausmessungskraft“, in K+U, Heft 228/1998
         Richter, H.G., Geschichte der Kunstdidaktik, Düsseldorf, 1981
         Trümper, H., Handbuch der Kunst- und Werkerziehung, Bd.I, Berlin, 1953
         Wessels, B., Die Werkerziehung, Bremen, 1966 Otto, G. Johann-Christian zeichnet ohne „Ausmessungskraft“, in K+U, Heft  228/1998